Fremdheit 1

Wenn du deine Spielweise umstellst, dann bist du erstmal vor allem eins: dir selber fremd. Und diese Fremdheit ist eine Mehr- Komponenten- Fremdheit. Zwei Aspekte davon:

Fremdheit 1 – Augen

Hast du als Kind gern durch Schlüssellöcher geguckt? Dann mach es nochmal, jetzt gleich. Ich wette, du hast nicht vergessen, wie es geht. Und jetzt: guck mit dem anderen Auge hindurch. Ungewohnt? Ja, es ist ungewohnt. Wenn du wie die meisten Menschen bist, dann hast du ein Schlüsselloch- Auge, mit dem du guckst, und ein anderes, das du dabei zukneifst. Das Schlüsselloch- Auge kannst du auch dein Lieblingsauge nennen.

Beim Geigespielen wurde früh für dich festgelegt, dass dein linkes Auge näher am Instrument ist und über Steg, Saiten und Schnecke hinweg auf die Noten schaut, während das rechte Auge weiter davon entfernt bleibt. Der Unterschied in der Entfernung ist klein, aber er gibt deinem Körper eine Richtung an, eine Blick- Richtung. Änderst du deine Spielweise, kehrt sich deine Blickrichtung um, denn dann liegt das Instrument im anderen Arm. Nun liegt das rechte Auge nah zum Steg, überblickt die Saitenlage und folgt der Schnecke bis zum Notenbild. Es fühlt sich an, wie mit dem anderen Auge durchs Schlüsselloch zu gucken. Probiere es aus.

Fremdheit 2 – Ohren

Mit welchem Ohr lauschst du an einer Meerschnecke, die du am Strand gefunden hast, ob du das Rauschen der Tiefsee darin hören kannst? Auch unsere Ohren sind nicht zwei identische Ohren. Eines davon hört früher und lieber bestimmte Frequenzen. Du kennst das vom Hörtest beim Ohrenarzt.

Beim Geigespielen liegt das Instrument am Hals oder Schlüsselbein an, und zwar bei rechtshändiger Spielweise an der linken Körper- und Gesichtshälfte. Dein Ohr hat auf dieser Seite allernächsten, unmittelbaren Kontakt zum Instrument, so wie deine Knochen und Muskeln hier unmittelbarer als am restlichen Körper die Schwingungen des Instruments aufnehmen.

Drehe deine Spielrichtung um, und du hast eine neue Körperhälfte, die diese Art von Kontakt mit dem Klangholz noch nicht kennt; du hast ein neues Ohr, das erst noch das Hören so nah am Instrument lernen muss. 

Du klingst nicht wie vorher; du bist nicht mehr dieselbe Musikerin.
Sei darauf vorbereitet, dass dein Klang unerhört sein wird.

Zusätzlich dazu hört dein „neues“ Ohr auch noch einen neuen Klang, den es vorher im Zusammenhang mit dir noch nicht gegeben hat. Denn du klingst nicht wie vorher; du bist nicht mehr derselbe Musiker, dieselbe Geigerin wie die, die vorher mit dem rechten Arm gestrichen hat. Du wärest kein Musiker, wenn du nicht wüsstest, dass alle Anteile von dir im Klang hörbar sind, nicht nur Tonhöhe und Dezibel. Sei also darauf vorbereitet, dass dein Klang in mehrfacher Hinsicht unerhört sein wird. Gib dir Zeit, ihn hören- und kennenzulernen.

Es ist wahrscheinlich, dass du zu allem Überfluss an Fremdheit auch noch auf einem neuen, anderen Instrument spielst als vorher. Entweder, du hast ein Instrument, das dir schon gehörte, „auf links“ umbauen lassen oder du hast ein ganz neues, linkshändig eingerichtetes Instrument für dich gefunden. Ein ungewohntes Instrument am ungewohnten Ohr unter ungewohntem Auge, zusätzlich zu allem, was Gehirn und Nervenbahnen gerade in die Waagschale werfen, um es neu zu programmieren- noch Fragen?

 

Die lieben Kollegen

Wenn du gerade umlernst und trotzdem da rausgehst, in die professionelle Szene, unter die Kolleginnen und Kollegen, dann bist du verletzlich. Jeder und jede ist das, denn wir alle sind Menschen- aber du bist momentan verletzlich in Extremform. Wahrscheinlich machst du deine Sache gut. Sicherlich aber bist du eine Zielscheibe für jede Menge Überraschung, einige unausgesprochene Fragezeichen, und auch für den einen oder anderen gehässigen Kommentar.

Ich erinnere mich an eine Probe im Hamburger Michel- ich glaube, es war für eine der wunderschönen Krippenandachten zwischen Weihnachten und Dreikönige. Fast alle Kolleginnen waren mir bekannt, wenn auch nicht vertraut. Ich saß unter den ersten Geigen. Mitten in der Probenarbeit drehte sich die Konzertmeisterin zu mir um und fragte mit einem spöttischen Grinsen: „Und? Geht’s denn jetzt besser?“ Ich war auf diese Art spitze Bemerkung nicht vorbereitet. Wäre ich vorbereitet gewesen, dann wäre mir vielleicht eine ebenso spitze Antwort eingefallen, so im Stil von „Danke, nein, geht genau so schlecht wie vorher – und bei dir?“ oder so etwas. Aber ich war es nicht, und so ging mein Puls nach oben und meine Hände erstarrten zu Eis. Sie hatte mich beschämt.

Scham ist ein Gefühl, das nie hilfreich ist; sie hat mit Angst zu tun und auch mit Schuldgefühlen, und sie sitzt wie eine Faust im Magen, verschnürt die Hände und lässt deinen Körper augenblicklich vereisen. Scham kann ohne Schwierigkeiten von jemandem ausgelöst werden, der deine Schwäche kennt, und meine Schwäche war in der Situation offensichtlich. Ich wünschte, Kolleginnen hätten es nicht nötig, untereinander Hiebe zu verteilen. Aber wenn es dir passiert ist und du während der Probe im Erdboden versinken möchtest, dann kläre in einer ruhigen Minute – also später- noch einmal mit dir selbst, ob du stark genug bist, da rauszugehen. Denn worum geht es? Du möchtest deinen Job verlässlich gut machen, genau wie jeder andere im Ensemble. Weil das dein Beruf ist. Du gehst ein größeres Risiko ein als andere in dem Moment. Schätze noch einmal möglichst realistisch ein, ob du in jedem Fall, also auch im Fall missgünstiger Kolleginnen, Kollegen oder – ja- Familienmitglieder, einen sauber abgelieferten Job garantieren kannst.  

Wenn ja, go for it! – und kümmer dich nicht um die Kommentare.

Wenn nein, lass noch ein bißchen Zeit vergehen und mach etwas anderes zwischendurch.

In keinem Fall ist es nötig, dass du dich selbst in Frage stellst. Und: die Kolleginnen gewöhnen sich daran, genau wie du, und bald hast du wieder ein ruhigeres Leben.

Pädagogik 2 oder Mythos Vermeidbarkeit

In vielen Köpfen ist die Vorstellung noch immer lebendig, dass Linkshändigkeit verhindert werden könne.

Hierzu ein Beispiel: Ich hatte über Jahre eine Geigenschülerin, die begabt und zugewandt war und gerne zu mir zum Geigenunterricht kam. In der Schule hatte sie gelegentlich Probleme und sie klagte immer häufiger über Kopfschmerzen. Von zu Hause aus wurde ihr musisches Interesse sorgfältig unterstützt. Einiges in ihrem Spiel und in der speziellen Art ihrer Lernschwierigkeiten bei gleichzeitig großer Musikalität deutete für mich darauf hin, dass sie Linkshänderin sein könnte, und ich sprach ihren Vater nach reiflicher Überlegung darauf an. Seine Antwort war: „Ja, ihre Mutter ist auch Linkshänderin. Aber wir haben rechtzeitig gegengesteuert, und so konnten wir es zum Glück verhindern.“

Umerziehen, 3. Streich

Neben familiärer Prägung gibt es auch ganz pragmatische Gründe, warum Kleinkinder bereits lange vor dem Schuleintritt umgeschult werden. Ich habe das bei meinem Sohn miterlebt, der schon im Alter von wenigen Monaten eine klare Linkshändigkeit zeigte und nach kurzer Zeit in der Krippengruppe auf dem besten Wege war, umgeschult zu werden. Auch hier war kein böser Wille seiner beiden Erzieherinnen im Spiel, aber: Bei den ersten Mal-, Kleb-, Knet- und Schwungaktivitäten gibt praktisch jeder Mensch, der nicht selber linkshändig ist und das auch weiß (!), also gut 90% der Menschen (zu den Zahlen vergleiche Umerziehen, 2. Streich), dem Kind Wachsmaler, Kreide und Spielgerät in die rechte Hand. Hat das Kind da anfangs noch ein Wackeln in der Annahme, verzichtet es meistens recht bald auf den Zusatzaufwand des In-die-eigene-andere-Hand-Rübergebens.

Anfangs hat das Kind noch ein Wackeln in der Annahme…..bald nicht mehr.

Denn was vom Erwachsenen kommt und wie es kommt, ist richtig und das möchte es lernen. Bleibt das Kind trotz des ständig wiederholten Anbietens in die rechte Hand bei seiner Linken und akzeptiert den Mehraufwand, sich das Gerät selbst noch einmal neu zurechtlegen zu müssen, dann besitzt das Kind entweder einen bewundernswürdigen Trotz, oder es trägt ein sehr gesundes Selbstwertgefühl in sich, oder es neigt in Anteilen zum autistischen Spektrum. Es muss nämlich ein MEHR an Kraft aufbringen im Vergleich zum wirklich rechtshändigen Kind, welches das Gerät aus der anbietenden Hand direkt annimmt und gleich loslegt. Dieses MEHR an Kraftaufwand braucht das Kind auch später unaufhörlich, wenn es entgegen seiner genetisch festgelegten Händigkeit schreibt, malt, musiziert. Der Mehraufwand für das Umlenken der Aktivität von der prädestinierten Hirnhälfte zur nachgeordneten Hirnhälfte – allein auf Grund des Gebrauchs der ungünstigeren Hand – wird im Buch Der Knoten im Gehirn oder Der umgeschulte Linkshänder von Johanna Barbara Sattler mit etwa 35% der Hirnaktivität beziffert. Das heißt, ein linkshändiges Kind, das rechtshändig schreiben, malen, musizieren muss, benötigt dauerhaft ein Drittel mehr Gehirnkraft als ein rechtshändiges Kind, um den Umweg zu bewältigen.

Kinder reagieren mit Überforderungsgefühlen, mit scheinbar unerklärlicher Wut, mit Kopfschmerzen und Sehschwäche und natürlich mit inneren Schwankungen auf diese Anstrengung. Die Schwankungen zeigen sich unter anderem in ihrer schulischen Motivation und Leistung, in ihren Stimmungen, in ihrem Gefühl für sich selbst, in ihrem Antrieb dem Leben gegenüber. Umgeschulte linkshändige Kinder können häufig nur ein schwaches, sozusagen verzerrtes Selbstbewusstsein entwickeln und zeigen in Schule und (später) Beruf weniger oder anderes als das, was in ihnen steckt.