Umerziehen, 3. Streich

Neben familiärer Prägung gibt es auch ganz pragmatische Gründe, warum Kleinkinder bereits lange vor dem Schuleintritt umgeschult werden. Ich habe das bei meinem Sohn miterlebt, der schon im Alter von wenigen Monaten eine klare Linkshändigkeit zeigte und nach kurzer Zeit in der Krippengruppe auf dem besten Wege war, umgeschult zu werden. Auch hier war kein böser Wille seiner beiden Erzieherinnen im Spiel, aber: Bei den ersten Mal-, Kleb-, Knet- und Schwungaktivitäten gibt praktisch jeder Mensch, der nicht selber linkshändig ist und das auch weiß (!), also gut 90% der Menschen (zu den Zahlen vergleiche Umerziehen, 2. Streich), dem Kind Wachsmaler, Kreide und Spielgerät in die rechte Hand. Hat das Kind da anfangs noch ein Wackeln in der Annahme, verzichtet es meistens recht bald auf den Zusatzaufwand des In-die-eigene-andere-Hand-Rübergebens.

Anfangs hat das Kind noch ein Wackeln in der Annahme…..bald nicht mehr.

Denn was vom Erwachsenen kommt und wie es kommt, ist richtig und das möchte es lernen. Bleibt das Kind trotz des ständig wiederholten Anbietens in die rechte Hand bei seiner Linken und akzeptiert den Mehraufwand, sich das Gerät selbst noch einmal neu zurechtlegen zu müssen, dann besitzt das Kind entweder einen bewundernswürdigen Trotz, oder es trägt ein sehr gesundes Selbstwertgefühl in sich, oder es neigt in Anteilen zum autistischen Spektrum. Es muss nämlich ein MEHR an Kraft aufbringen im Vergleich zum wirklich rechtshändigen Kind, welches das Gerät aus der anbietenden Hand direkt annimmt und gleich loslegt. Dieses MEHR an Kraftaufwand braucht das Kind auch später unaufhörlich, wenn es entgegen seiner genetisch festgelegten Händigkeit schreibt, malt, musiziert. Der Mehraufwand für das Umlenken der Aktivität von der prädestinierten Hirnhälfte zur nachgeordneten Hirnhälfte – allein auf Grund des Gebrauchs der ungünstigeren Hand – wird im Buch Der Knoten im Gehirn oder Der umgeschulte Linkshänder von Johanna Barbara Sattler mit etwa 35% der Hirnaktivität beziffert. Das heißt, ein linkshändiges Kind, das rechtshändig schreiben, malen, musizieren muss, benötigt dauerhaft ein Drittel mehr Gehirnkraft als ein rechtshändiges Kind, um den Umweg zu bewältigen.

Kinder reagieren mit Überforderungsgefühlen, mit scheinbar unerklärlicher Wut, mit Kopfschmerzen und Sehschwäche und natürlich mit inneren Schwankungen auf diese Anstrengung. Die Schwankungen zeigen sich unter anderem in ihrer schulischen Motivation und Leistung, in ihren Stimmungen, in ihrem Gefühl für sich selbst, in ihrem Antrieb dem Leben gegenüber. Umgeschulte linkshändige Kinder können häufig nur ein schwaches, sozusagen verzerrtes Selbstbewusstsein entwickeln und zeigen in Schule und (später) Beruf weniger oder anderes als das, was in ihnen steckt.