Wenn du gerade umlernst und trotzdem da rausgehst, in die professionelle Szene, unter die Kolleginnen und Kollegen, dann bist du verletzlich. Jeder und jede ist das, denn wir alle sind Menschen- aber du bist momentan verletzlich in Extremform. Wahrscheinlich machst du deine Sache gut. Sicherlich aber bist du eine Zielscheibe für jede Menge Überraschung, einige unausgesprochene Fragezeichen, und auch für den einen oder anderen gehässigen Kommentar.
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Ich erinnere mich an eine Probe im Hamburger Michel- ich glaube, es war für eine der wunderschönen Krippenandachten zwischen Weihnachten und Dreikönige. Fast alle Kolleginnen waren mir bekannt, wenn auch nicht vertraut. Ich saß unter den ersten Geigen. Mitten in der Probenarbeit drehte sich die Konzertmeisterin zu mir um und fragte mit einem spöttischen Grinsen: „Und? Geht’s denn jetzt besser?“ Ich war auf diese Art spitze Bemerkung nicht vorbereitet. Wäre ich vorbereitet gewesen, dann wäre mir vielleicht eine ebenso spitze Antwort eingefallen, so im Stil von „Danke, nein, geht genau so schlecht wie vorher – und bei dir?“ oder so etwas. Aber ich war es nicht, und so ging mein Puls nach oben und meine Hände erstarrten zu Eis. Sie hatte mich beschämt.
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Scham ist ein Gefühl, das nie hilfreich ist; sie hat mit Angst zu tun und auch mit Schuldgefühlen, und sie sitzt wie eine Faust im Magen, verschnürt die Hände und lässt deinen Körper augenblicklich vereisen. Scham kann ohne Schwierigkeiten von jemandem ausgelöst werden, der deine Schwäche kennt, und meine Schwäche war in der Situation offensichtlich. Ich wünschte, Kolleginnen hätten es nicht nötig, untereinander Hiebe zu verteilen. Aber wenn es dir passiert ist und du während der Probe im Erdboden versinken möchtest, dann kläre in einer ruhigen Minute – also später- noch einmal mit dir selbst, ob du stark genug bist, da rauszugehen. Denn worum geht es? Du möchtest deinen Job verlässlich gut machen, genau wie jeder andere im Ensemble. Weil das dein Beruf ist. Du gehst ein größeres Risiko ein als andere in dem Moment. Schätze noch einmal möglichst realistisch ein, ob du in jedem Fall, also auch im Fall missgünstiger Kolleginnen, Kollegen oder – ja- Familienmitglieder, einen sauber abgelieferten Job garantieren kannst.
Wenn ja, go for it! – und kümmer dich nicht um die Kommentare.
Wenn nein, lass noch ein bißchen Zeit vergehen und mach etwas anderes zwischendurch.
In keinem Fall ist es nötig, dass du dich selbst in Frage stellst. Und: die Kolleginnen gewöhnen sich daran, genau wie du, und bald hast du wieder ein ruhigeres Leben.