Druck (von außen)

Wenn du dich bereits mit händigkeitsgerechtem Musizieren und möglichem Um- und Rückschulen beschäftigt hast, dann ist dir wahrscheinlich der Satz begegnet, dass Druck dem Prozess nicht förderlich ist. Dies möchte ich unterstreichen:

Druck ist dem Prozess nicht förderlich.

Ich rede nicht von der Wohltat, die gewisse Verbindlichkeiten mit sich bringen: es ist gut, einen Konzerttermin zu haben, bis zu dem ein Programm stehen muss; eine Uhrzeit für Probenanfang und -ende, die nicht du selbst dir setzt, sondern die einfach auf deinem Zettel stehen und für die du gebucht bist und Punkt. Diese Rahmenbedingungen tun gut und entlasten.

Be-lastend dagegen ist es, wenn du während deines Umlernens ernsthaften Existenzängsten ausgesetzt bist; wenn du nicht weißt, wie du die Miete und das Essen bezahlen sollst, weil du weniger Pensum bewältigst als früher und dadurch weniger Einkommen hast; belastend ist, wenn du nicht weißt, wie du deine Kinder trösten sollst, weil du überwältigt von dem Neuronenfeuerwerk in deinem Kopf und nicht weißt, wo du Trost und Ruhe finden kannst.. Belastend ist, wenn du merkst, dass sich dein Weg verändert, und zwar genau dadurch, dass du ihn gehst; wenn du nicht erkennen kannst, wohin dich dieser neue Weg letztendlich führen wird, und gleichzeitig sehr reale, kleine und hungrige Menschen von dir und nur von dir abhängen, damit du ihnen Wege zum Gehen ins Leben zeigst.

Diese Belastungen durch existenziellen Druck sind nicht zu unterschätzen. In meinem Fall waren sie alle gegeben. Sie haben mich nicht davon abgehalten, meinen Weg weiterzugehen, aber ich vermute, dass sie mich als Mensch verändert haben. Ich vermute, dass ich Angst zwar durchschreiten konnte; ich sterbe nicht an Angst. Aber wenn wir viele Schritte mit und in Angst gehen müssen, dann verändert sich auf Dauer die Art, wie wir unsere Füße setzen. Angst wurde ein Teil meines Vorwärtsgehens. 

Von Luftgeigen und Singenden Sägen  

Dieses Bild klebte ich als Zehnjährige auf meine Geigenschule. Es fiel niemandem- auch nicht mir selbst- auf, dass sich hier ein Verdrehungsgefühl ausdrückte: verdeckte Linkshändigkeit.

Meine Großmutter liebte Musik, Malerei und jede Art von Schabernack; sie wuchs im Krieg auf und durfte daher nur die Volksschule besuchen. Ihr Leben lang hat sie bedauert, keine künstlerische Ausbildung erhalten zu haben. Manchmal spielte sie selig lächelnd Luftgeige vor unseren Augen- und strich den imaginären Bogen mit links. Wenn sie in der Luft Blockflöte spielte und dazu summte und tutete- dann hielt sie die linke Hand unten, die rechte Hand oben an der imaginären Flöte. Natürlich war meine Großmutter Linkshänderin, und eine stark ausgeprägte obendrein.

In der Kult- Kinderserie Pippi Langstrumpf (im Original von 1969/1971) gibt es die Folge, in der Annika und Tommy mit Pippi von zu Hause ausbrechen und auf Konrad, den Landstreicher treffen. Tommy lernt von Konrad dem Landstreicher, wie man die singende Säge streicht. Und er streicht mit links. Bogen links, Säge rechts, und los geht es. Tommy hat dabei das selige Lächeln im Gesicht, das auch meine Großmutter beim Luftgeigen hatte. Den beseelten Ausdruck finde ich in den Bildern Marc Chagalls wieder, der unter vielem anderen auch linksspielende Musiker in seine bunten Traumbildern malte- ob dies detailgetreue Abbildungen waren oder „erträumte“, wissen wir nicht. Ihre Ausdruckskraft bleibt vom Schönsten, was ich kenne.

Wie aber würde sich diese Ausdruckskraft verändern, wenn man meiner Großmutter, Tommy, Marc Chagall erklären würde: Mach das andersrum! Sonst bist du falsch!

Genau das passiert einem linkshändigen Kind auf nahezu allen Ebenen der klassischen Musik, denn die ist vom ersten Tönchen an streng reglementiert. Kaum verlassen wir das Hoheitsgebiet der Klassik, treffen wir auf viel diversifiziertere, buntere Welten des Instrumentalspiels. Viele Beispiele, und von sehr lebendigen Musiker_innen, sind auf linksgespielt zu finden. Ich nenne hier nur die allergeläufigsten aus der Vergangenheit, die wirklich jeder kennt. In Pop und Rock sind das Jimi Hendrix und Paul McCartney, die linksherum spielten; Ringo Starr hingegen spielte als Linkshänder auf einem rechtshändig aufgebauten Set wie unzählige andere Drummer vor und nach ihm. Der Stummfilmkünstler Charlie Chaplin spielte linkshändig Cello, weil es in der Filmwelt niemanden störte; in volksmusikalischen Gruppierungen aus aller Welt, von Süd- und Nordamerika über die wandernden Völker der Sinti und Roma und bis nach Indien und Afrika tauchen linksspielende Musikerinnen und Musiker an Blas- wie an Streich- und Zupfinstrumenten auf, an Trommeln sowieso. Diese Musikerinnen und Musiker nehmen nur selten den Umweg über die Musikhochschulen und lernen ihre Instrumente vom Herzen in die Hand.

Je weniger Regeln es also gibt, die von vornherein als gesetzt gelten, desto größer ist die Chance, bei der eigenen Lieblingshand bleiben zu dürfen, die man intuitiv sowieso wählen würde. Könnte es doch überall in der Musik so sein! Dein Bogen ist der Atem der Musik, heißt es schon in den alten Quellen. Dürfte doch jeder und jede mit der Hand atmen, die ihm, die ihr entspricht! Wozu sonst spielen wir denn?

Druck (von innen)

Als Druck von innen bezeichne ich die Anteile in dir, die mit Erwartungen zu tun haben. Diese Anteile wollen etwas von dir, und ihre Forderungen sind so laut wie unrealistisch; so begründet wie unerfüllbar. Es gibt eine feine Linie, die Neugier von Erwartung unterscheidet. Neugier macht etwas auf; Neugier lässt dich deine Nase zur Tür hinausstrecken, um die Luft draußen zu schnuppern und zu wittern, wo das nächste Abenteuer auf dich wartet. Erwartung dagegen macht die Tür zu. 

Es ist sehr schwer, als ausgebildeter Musiker keine Erwartungen an dein Klangergebnis zu haben. Es ist sogar unmöglich. Du weißt, wie es geht, du weißt, wie es klingen kann – und dann kommt da etwas völlig anderes heraus, etwas Formloses und dadurch erstmal Ungeliebtes, und du kannst dir noch nicht einmal selber helfen. Ich habe dies für mich gelegentlich mit der Erfahrung verglichen, nach einem erlittenen Schlaganfall bestimmte, früher selbstverständliche Bewegungsabläufe völlig neu lernen und dir dabei auch noch selber zuschauen zu müssen. Ich hoffe, dass dieser Vergleich für Menschen, die wirklich einen Schlaganfall erlitten haben, nicht anmaßend wirkt und bitte um Verzeihung, falls jemand ihn doch so empfindet. 

Wenn du dich zum Umlernen entschieden hast, dann wolltest du eine Verbesserung für dich bewirken. Es sollte schöner, leichter und angenehmer sein, mit links zu streichen, als vorher mit rechts; und schließlich soll es natürlich auch noch besser klingen, denn diese neue Schönheit soll sich ja in Klang ausdrücken, worin sonst?

Wenn du dich zum Umlernen entschieden hast, dann wolltest du eine Verbesserung für dich bewirken. Es sollte schöner, leichter und angenehmer sein, mit links zu streichen, als vorher mit rechts; und schließlich soll es natürlich auch noch besser klingen, denn diese neue Schönheit soll sich ja in Klang ausdrücken, worin sonst?

Möglicherweise ist davon bisher noch nichts eingetroffen. Möglicherweise wartest du schon eine lange Zeit darauf, dass sich das Wohlgefühl der ersten linksgestrichenen Töne nunmehr flächendeckend einstellt. Möglicherweise treffen die Erfahrungen, die du beim Umlernen machst, nicht im Geringsten auf die Erwartungen, die du in Bezug auf diesen Weg hattest.

Das ist der Druck von innen. Die Leerstelle zwischen dem, was du erwartest, und dem, was du erlebst. Es passt nicht zusammen. Da ist ein klaffendes, hässliches Vakuum in der Mitte, das dort nicht eingeplant war, und du denkst zwischenzeitlich, du könntest vielleicht umkehren.

Meine Erfahrung ist: du kannst nicht umkehren, wenn du an dieser Leerstelle einmal angekommen bist. Du stehst an der Klippe deiner Erwartungen und musst diese Klippe verlassen, um das gegenüberliegende Felsmassiv zu erreichen, das Massiv deines neuen Landes. Es ist wie der kleine Krümel Löwenherz in Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“, der seinen schöneren, größeren und tödlich verwundeten Bruder Jonathan auf den Rücken nimmt und ihn und sich nur retten kann, wenn er mit ihm zusammen das Land Nangijala verlässt; Krümel, der kleinere und ängstlichere der beiden Brüder, muss das Land, in dem er sich bewährt hat, verlassen, er muss springen; und er tut es. Das Buch endet so: „Ooh Nangilima! Ja, Jonathan; Ich sehe das Licht!“

Auch meine Erfahrung ist, dass sich Nangijala und Nangilima nicht gleichzeitig bewohnen lassen; das alte und das neue Land. Die Klippe deiner Erwartungen und die gegenüberliegende Ebene deines neuen Landes lassen sich nicht miteinander versöhnen; es bringt nichts zu verhandeln. Du musst springen, und du musst auch noch die Kraft aufbringen, zusätzlich zu dir selbst und deiner Angst deinen verwundeten Bruder zu tragen.

Trau dich! Der Abgrund dazwischen ist möglicherweise nicht so tief, wie du befürchtest. Du wirst es sehen. Und was soll schon passieren: du bist ja dabei! (Zitat mit freundlicher Erlaubnis von Hrn. Meyer, Bremen)

Fremdheit 2

Mit welchem Ohr lauschst du an einer Meerschnecke, die du am Strand gefunden hast, ob du das Rauschen der Tiefsee darin hören kannst? Auch unsere Ohren sind nicht zwei identische Ohren. Eines davon hört früher und lieber bestimmte Frequenzen. Du kennst das vom Hörtest beim Ohrenarzt.

Beim Geigespielen liegt das Instrument am Hals oder Schlüsselbein an, und zwar bei rechtshändiger Spielweise an der linken Körper- und Gesichtshälfte. Dein Ohr hat auf dieser Seite allernächsten, unmittelbaren Kontakt zum Instrument, so wie deine Knochen und Muskeln hier unmittelbarer als am restlichen Körper die Schwingungen des Instruments aufnehmen.

Drehe deine Spielrichtung um, und du hast eine neue Körperhälfte, die diese Art von Kontakt mit dem Klangholz noch nicht kennt; du hast ein neues Ohr, das erst noch das Hören so nah am Instrument lernen muss. 

Du klingst nicht wie vorher; du bist nicht mehr dieselbe Musikerin.
Sei darauf vorbereitet, dass dein Klang unerhört sein wird.

Zusätzlich dazu hört dein „neues“ Ohr auch noch einen neuen Klang, den es vorher im Zusammenhang mit dir noch nicht gegeben hat. Denn du klingst nicht wie vorher; du bist nicht mehr derselbe Musiker, dieselbe Geigerin wie die, die vorher mit dem rechten Arm gestrichen hat. Du wärest kein Musiker, wenn du nicht wüsstest, dass alle Anteile von dir im Klang hörbar sind, nicht nur Tonhöhe und Dezibel. Sei also darauf vorbereitet, dass dein Klang in mehrfacher Hinsicht unerhört sein wird. Gib dir Zeit, ihn hören- und kennenzulernen.

Es ist wahrscheinlich, dass du zu allem Überfluss an Fremdheit auch noch auf einem neuen, anderen Instrument spielst als vorher. Entweder, du hast ein Instrument, das dir schon gehörte, „auf links“ umbauen lassen oder du hast ein ganz neues, linkshändig eingerichtetes Instrument für dich gefunden. Ein ungewohntes Instrument am ungewohnten Ohr unter ungewohntem Auge, zusätzlich zu allem, was Gehirn und Nervenbahnen gerade in die Waagschale werfen, um es neu zu programmieren- noch Fragen?