Der Mythos vom Platzbedarf

Momentaufnahme aus der Geigenbaumeisterwerkstatt Frank Frobeen, Hamburg

Immer wieder höre ich, dass Linksspielen im Orchester unpraktisch wäre, weil man mehr Platz bräuchte. Das kann ich nicht bestätigen. Ein Bogen, der mit links gestrichen wird, braucht nicht mehr Platz als ein mit rechts gestrichener Bogen. Die Bögen kommen auch nicht miteinander ins Gehege, weil jeder Spieler sowieso seinen eigenen Kreis um sich herum hat: auch wenn beide Pultnachbarn symmetrisch streichen, hat jeder seine eigene Zone, seinen Bereich, der vom Bogen des anderen nicht überschritten wird.  

Es gibt luxuriöse Vorteile, die ich genieße, wenn ich das Pult mit einer rechtshändigen Kollegin oder Kollegen teile. Zum Beispiel können wir wählen, ob die Bögen in der Mitte zueinander streichen (dann sitze ich rechts am Pult), oder ob sich die Instrumente in der Mitte Rücken an Rücken treffen sollen (dann säße ich links am Pult). Beides hat Vorteile. Manchen Kolleginnen ist das eine, anderen das andere angenehmer. Die Wahl zu haben, macht Spaß. Wenn die Bögen in der Mitte zueinander spielen, höre ich mehr von meiner Nachbarin als bei der konventionellen Sitz- und Spielweise, weil die Instrumente und auch wir Spielerinnen einander zugewandt sind. So zugewandt zu spielen, ist schön.

Manchmal höre ich die Sorge, dass linksspielende Musiker die übrigen im Orchester verwirren würden. Auch das kann ich nicht pauschal bestätigen. Ein Beispiel: während einer Matthäuspassion saß eine mir bekannte Oboistin den ganzen Probentag lang mir gegenüber, im anderen Chorus, wir hatten Blickkontakt. Nach der Probe, als sie mithörte, dass Kollegen mich auf das Linksspielen ansprachen, sinnierte sie: „Ach, das war es…. Ich dachte schon, irgendetwas ist anders…. hat sie eine neue Frisur, eine neue Brille? Also dann hast du also andersrum gespielt!“ Das war ein sehr lustiger Abend und eine große Freude für mich. Nebenbei belegt die Szene nochmal, dass das menschliche Gehirn Spiegelsymmetrie sehr gerne annimmt und meist nicht als störend empfindet.

Sollte sie aber jemand als störend empfinden, dann hilft es, miteinander zu reden. Ein Geiger erzählte neulich, dass es ihn verwirre, am Pult hinter mir zu sitzen, nicht aber mir gegenüber. Eine Lösung, mit der sich jeder wohlfühlt, ist dann meistens schnell gefunden.

Ich genieße noch einen zusätzlichen Vorteil: als umgeschulte Linkshänderin, die sowohl mit rechts als auch mit links ziemlich gut schreiben kann, kann ich auswählen, ob ich die Eintragungen in meinen Noten mit links oder mit rechts machen möchte. Ob es mir also gerade besser passt, die Bratsche oder den Bogen abzusetzen. Das ist zugegeben eine Kleinigkeit, aber: die Wahl zu haben, macht Spaß!

Das Netzwerk linksgespielt, oder: Gemeinsam geht alles besser.

Momentaufnahme vom Linkshändertag 2023 in Frankfurt, Foto: Alexander Englert

Vergangene Woche haben die Kolleginnen und Kollegen vom Netzwerk linksgespielt zum dritten Mal seit seiner Gründung den Internationalen Linkshändertag in Frankfurt gefeiert. Dazu haben die beiden Initiatorinnen Christine Vogel und Sophia Klinke mit all den vielen weiteren Musiker*innen, die sich mit der Zeit um sie versammelt haben, wieder ein bewundernswertes Programm auf die Beine gestellt. Es gab ein Konzert, mehrere Workshops und vielfältige Informationsmöglichkeiten für Besucherinnen und Besucher, hervorragende Pressearbeit- und im Herzen des Ganzen lebt der Austausch über das Thema linkshändiges Musizieren, das immer mehr Menschen bewegt. Dieser Austausch ist unschätzbar wertvoll.

Vor etwas 15 Jahren kannte ich kaum Gleichgesinnte und begab mich alleine auf den abenteuerlichen Weg des Umlernens. Heute ist es für mich sehr schön zu erleben, dass wir Linksspielende VIELE sind; einige sind zu unermüdlichen Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet geworden. Sie informieren in Schulen und auf Tagungen, organisieren Workshops und Konzerte, veröffentlichen umfassende Beiträge in Fachmedien und knüpfen Kontakte zu Hersteller- und Vertriebsfirmen von Instrumenten, was sehr wichtig ist. Und so wächst die Nachfrage nach händigkeitssensiblem Musizieren stetig. Das ist hervorragend. Gerade an Musikschulen und in JeKi- Kreisen ist es noch ein langer Weg, bis Linkshänderinstrumente für Kinder und Lehrende eine selbstverständliche Option werden. Kein Kind sollte mehr zum Musizieren auf seine Lieblingshand verzichten müssen. Dazu ist Musizieren viel zu essenziell.

Das Netzwerk Linksgespielt hat sich mittlerweile die Form eines Vereins gegeben, dessen Vorstand Christine Vogel, Sophia Klinke, Silke Becker und Laila Kirchner bilden. Der Verein gibt einen Newsletter heraus und ist Forum, Anlaufstelle und Informationsbörse in einem. Viele Musikerinnen und Musiker stellen dort ihre Geschichte(n) zur Verfügung.

Schau also unbedingt rein!

Mehr von den Hirnhälften

Jetzt ein kleiner Ausflug in andere Körperregionen, die auch von der Hirnhälftendominanz berührt werden:

Wenn du, sagen wir, gern Fußball spielst, dann hast du höchstwahrscheinlich einen Fuß, mit dem du den Ball öfter ins Tor bringst als mit dem anderen; einen Fuß, der beim Ausdribbeln tänzelt und antäuscht und einen, der den Dribbler dabei aufrecht hält; und wenn Fußball nicht dein Sport ist, dann hast du vielleicht einen Fuß, mit dem du sicher auf dem Tretroller stehst und einen, mit dem du Anschwung gibst. Den jeweils anderen Fuß zu trainieren, hilft beiden und macht Spaß; ändert aber nichts daran, mit welchem Fuß du letztlich fester und genauer schießen kannst. Standbein und Spielbein sind ein Ergebnis davon, dass deine Hirnhälften sich die Arbeit aufteilen, eine Seite aber den Ton angibt.

Es gibt auch ein Auge, das an die Linse des (analogen) Fotoapparats geht, und eines, das sich hinten anstellt. Es gibt auch ein Ohr, das den Ton beim Hörtest in der Ohrenarztpraxis früher hört als das andere. Es gibt eine Seite der Hüfte, mit der die Bauchtänzerin schöner kreisen kann als mit der anderen; so sehr sie auch beide trainiert hat und sie natürlich beide wunderschön sind. Wenn du Kinder gestillt hast, dann weißt du, dass eine Seite deiner Brust mehr Milch produziert, also nahrhafter ist als die andere; das ist deine „Schokoladenseite“. Und trotzdem hat die Natur beide Seiten gemacht. Auf eine zu verzichten wäre wirklich keine gute Idee.

An dieser Ungleichseitigkeit ist nichts zu machen – wäre etwas daran zu machen, würden die Fußballnationalspieler längst so trainiert, dass sie nicht Links-, nicht Rechts-, sondern Beidschützen wären, weil das auf dem Rasen ein Riesenvorteil wäre. Es ist aber nichts daran zu machen, und deswegen wird der Trainer bei der Aufstellung seiner Spieler unter anderem berücksichtigen, welcher Fuß seiner Torjäger jeweils der stärkere ist und sie entsprechend zum Tor platzieren.

Deine Füßigkeit, die Ohrigkeit und Äugigkeit sagen nun nicht unbedingt etwas über deine Händigkeit aus (natürlich auch nicht über deine Hüftigkeit, welche noch weniger erforscht ist als die anderen -keiten). Oft haben Linkshänder ein stärkeres rechtes Bein, Rechtshänder ein stärkeres linkes; sagte ich schon, dass die Natur gerne ausgleichend arbeitet? – Es ist aber davon nichts bewiesen und daran ist das Schöne: du darfst dich überraschen lassen! Bei jedem Menschen ist alles wieder anders.

Umerziehen, 2. Streich

Ein erheblicher Anteil der linkshändigen Kinder ist zum Zeitpunkt des Schuleintritts bereits zum vermeintlichen Rechtshänder umgeschult worden. Wie das geschieht: natürlich nicht mit Absicht! Oft aber durch die unbewusste, niemals laut ausgesprochene Grundhaltung: erstmal probieren, ob’s normal geht; und wenn das gar nicht gehen will, dann sehen wir halt weiter.

Früher ging man von einem Linkshänderanteil von etwa 4% aller Menschen aus. Das war in der Zeit, als das Umerziehen noch zum guten pädagogischen Ton gehörte und körperliche Gewalt ein legitimes Mittel für vieles war (man denke an auf dem Rücken festgebundene, „hässliche“ Hände und den allgegenwärtigen Rohrstock). Heute, wo Pädagogen nicht mehr absichtsvoll, manchmal aber leider unabsichtlich umschulen, kursiert die Zahl von 10% Linkshänderanteil. Tatsächlich gehen viele, die sich mit dem Thema schon lange beschäftigen, von etwa 35-45% Linkshändern aus (vergleiche J.B. Sattler, Der umgeschulte Linkshänder oder der Koten im Gehirn).

Die Differenz, also etwa 25-35% aller Menschen, können versteckte oder verdeckte Linkshänder genannt werden.

Wie ist das möglich? Oft tragen Familien seit Generationen das Phänomen von umgeschulter Linkshändigkeit mit sich.

Häufig höre ich den Satz, von jemandem auf mein linkshändiges Spielen angesprochen: „Ja, in unserer Familie haben wir auch ganz viele Beidhänder, und ich hab früher auch vieles mit links gemacht“. Das ist okay. Nur:

Es gibt keine Beidhänder.

Es gibt lediglich Menschen mit rechtsseitiger oder linksseitiger Hirnhälftendominanz, die ihre jeweils andere Seite gut trainiert haben und damit einen hohen Grad von Kommunikation zwischen beiden Gehirn- und Körperhälften erreichen. Dies ist jedem Menschen mit entsprechender Übung möglich. Die meisten vermeintlichen Beidhänder sind mit hoher Wahrscheinlichkeit umgeschulte Linkshänder.

Pädagogik 1 oder eine späte Entschuldigung

Als junge Geigenlehrerin an der Akademie Hamburg für Musik und Kultur stellte sich mir eine neue Schülerin in Begleitung ihrer Mutter vor. Ein aufgewecktes und begabtes Mädchen, das sich zudem als fleißig herausstellte. Die Mutter informierte mich gleich zu Beginn der ersten Stunde, dass ihre Tochter Linkshänderin sei und fragte, ob das einen Unterschied fürs Geigespielen mache. Damals wusste ich noch nichts von meiner eigenen Linkshändigkeit und hatte nie über händigkeitsgerechtes Musizieren nachgedacht oder davon gehört (Liebe Musikhochschulen deutscher Zunge: wir sollten reden!). Ich erklärte unbekümmert, nein, das habe keinerlei Auswirkungen auf das Spielen, wir könnten direkt anfangen. 

Später habe ich oft an dieses Mädchen gedacht, das eine gute Spielerin war und die ich bis zu meiner eigenen Mutterschaft und dadurch bedingten Pause unterrichten durfte. Und ich denke daran, wie ahnungslos und letztlich unverantwortlich ich war.

Liebe Zeynep, falls Du das hier liest: Es tut mir leid. Wenn ich es gewusst hatte, hätte ich dir die schönste kleine Linkshändergeige von allen besorgt.